sexuelle Freiheit.

Text: Dania Schiftan

Foto: UNIKAT

Dania Schiftan hat einen Doktortitel in Clinical Sexologie und Psychotherapie. Seit 2008 arbeitet sie im Züricher ZiSMed als selbstständige Sexual- und Psychotherapeutin. Um auch die überregionale Nachfrage zu bedienen, bietet sie neben ihrer Praxistätigkeit zusätzliche Online-Beratung an.

»Wir wissen, dass die allermeisten Frauen sich selbst befriedigen, aber ob diese vielen Frauen dies auch genießen und darüber reden... ein großes Fragezeichen.«

In Zeiten, in welchen Gleichstellungsdebatten, feministische Rhetoriken und Gender-Pay-Gaps Dauerthema in den Medien sind, werde ich immer wieder mit Fragen rund um die sexuelle Freiheit, insbesondere der Frauen, konfrontiert. Sehr oft wird – meiner Meinung nach fälschlicherweise – unter sexueller Freiheit nur verstanden, was man in der Sexualität alles ausprobiert und welche Praktiken man erlebt haben muss. Sprich: wie »frei« man sich in seiner Partnerschaft bewegen sollte und ob Swingen, Gruppen- oder Gelegenheitssex und multiple Orgasmen zum Erfahrungsschatz einer erwachsenen Person zählen sollten. Ich verstehe sexuelle Freiheit aber auch als etwas grundsätzlich anderes. Als etwas Politisches, welches wie die emotionale Freiheit erst in den vergangenen Jahrzehnten zunehmende Bedeutung gewonnen und in einigen von uns zu Verwirrung, Unsicherheit oder gar Chaos geführt hat. Dies öffnet Raum für teils sehr verschiedene Definitionen, wie bereits meine obige Bemerkung vermuten lässt.  Bei der Frau stelle ich mir in erster Linie die Frage, ob sie wirklich den Sex hat, der ihr gefällt. Holt sie sich an Häufigkeit, Intensität und Konstellation, worauf sie Lust hat? Oder ist sie geprägt durch soziale Erwartungen und gesellschaftliche Normen, die besagen, dass die Sexualität einer Frau so und so zu sein hat? Wir befinden uns im Moment in einem Wechsel, wo es zwar einerseits für die Mehrheit logisch tönt, dass eine Frau mit so vielen Männern oder Frauen Sex haben darf, wie sie möchte, dass sie so intensiv Sex haben soll, wie sie will, dass sie so oft Lust haben darf, wie sie es verspürt. Wir erachten es als folgerichtig, dass eine Frau auch in Beziehungen die Erlaubnis hat, sehr oft Sex zu haben. Doch vergessen wir oft, dass unterschwellig gewisse Dogmen und Vorstellungen herrschen darüber, wie etwas zu sein hat. Dass es oftmals doch immer noch etwas komisch ist, wenn eine Frau öfters oder härteren Sex möchte als ihr Partner. In solchen Momenten unterliegt sie verinnerlichten Sätzen wie: »Ich, als Frau, das geht irgendwie nicht.“ Und genau an diesem Punkt startet für mich die sexuelle Freiheit einer Frau: Verfällt sie immer wieder den inneren Erwartungen an »die (un-)sexuelle Frau«? Oder gibt sie sich wirklich die komplette Freiheit und Erlaubnis, Sexualität zu genießen, Dinge auszuprobieren und um herauszufinden, was sie eigentlich möchte und was ihr wirklich gefällt?  Das fängt bereits bei der Selbstbefriedigung an: Darf sie sich selbst befriedigen, darf sie das genießen, Lust haben, darüber reden und toll finden? Je mehr eine Frau, trotz „Polizisten“ oder „Predigern“ im Hinterkopf, anfängt auszuprobieren, sich nicht ablenken lässt von ihren sie stoppenden Gedanken, desto mehr kann sie erkennen und rausfiltern, was sie wirklich gerne mag. Was passiert beispielsweise, wenn sie im Bett ist mit ihm und ihre Hand  an einen anderen Ort wandern lässt als sonst, wenn sie lauter wird als üblich, weil ihr danach ist? Das gleiche gilt auch für die Selbstbefriedigung: Wir wissen, dass die allermeisten Frauen sich selbst befriedigen, aber ob diese vielen Frauen dies auch genießen und darüber reden... ein großes Fragezeichen. In der Theorie ist Selbstbefriedigung sozial akzeptiert, doch wird darüber weder geredet noch wird Genuss eingeklammert. Oft zeigt es sich, dass Frauen dies alles sehr gut können und umsetzen, solange sie in der Phase der Partner-Gewinnung sind, oder wenn sie mehrere Partner nacheinander haben. Aber bei längeren Beziehungen überlagert häufig das Emotionale die sexuelle Erregung. Das zeigt sich womöglich darin, dass die Sorge der Frauen steigt in Hinsicht darauf, was er von ihr denken könnte, wenn sie etwas Bestimmtes tut oder sagt. Ein Beispiel wäre die Situation, dass sie gerne etwas Neues ausprobieren möchte. Der Druck der emotionalen Gefährdung steigt dabei aber immer mehr.  Aus diesem Grund sollten wir genau hinschauen, dass wir uns nicht in oberflächlichem Verhalten zur Ruhe setzen, sondern wirklich schauen, wie es in tieferen, längeren Beziehungen aussieht. Bei einigen Männern gibt es eine ganz andere Thematik, die zuoberst steht: Und zwar die soziale „Gewissheit“, dass Männer geile Hengste sind, wenn sie oft Sex wollen, mit vielen verschiedenen Frauen Sex haben, spezielle Praktiken ausüben und so weiter. Aber: Ziel erreicht, alles toll? Darf ein Mann das alles nicht toll finden? Hat ein Mann in unserer heutigen Gesellschaft die Erlaubnis zu sagen, dass es ihm gar nicht gefällt, mit so vielen Frauen ins Bett zu gehen, weil er am liebsten »Blümchensex« hat und dies bitte auch nur einmal im Monat? Besitzt ein Mann in dieser Hinsicht auch seine sexuelle Freiheit, seine Sexualität so zu leben, wie er es will und gut findet? Oder herrscht möglicherweise bei gewissen Männern genau das umgekehrte Problem, dass sie sich dazu gezwungen fühlen, Sex auf ganz spezielle Art auszuleben?  Die Mehrheit der Männer, die diesen Text liest, würde wohl denken, dass es doch gar nicht stimme. Dass sie es sehr genießen, wenn sich ihre Frau, Partnerin oder der letzte One-Night- Stand so selbstsicher und frei zeigen im Bett. Und sie meinen das auch. Fakt ist aber, dass das nicht wirklich stimmt. Unter Psychologen nennen wir dies »Den heiligen Hurenkomplex«. Viele Männer finden dies in ihrer Fantasie wie auch am Anfang einer Beziehung wahnsinnig toll. Aber mit der Zeit wären sie sehr verunsichert, wenn sich zeigen würde, dass sie viel öfters Lust hat oder verschiedenste Praktiken ausprobieren möchte als er. Früher oder später greifen auch da unsere sozialen Normen. Kurzum: Sexuelle Freiheit beginnt bei jedem individuell. Sie ist keine Frage von guter oder schlechter Partnerschaft, Singledasein, angeborenem Talent oder was auch immer. Die Fragestellung lautet vielmehr: Will ich mir die sexuelle Freiheit mehr und mehr nehmen, gönnen und sie einfordern, um von innen her die Gesellschaft zu reformieren? 

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