São Tomé und Príncipe.

Text: Jan Zeller

Foto: Hardy Müller

Der Autor hat es lange versucht, in aller Akribie dem kleinen Inselstaat am Äquator in dessen Fülle gerecht zu werden. Das bis zu seiner Entdeckung 1471 unbewohnte Tropenparadies, in der Fläche kaum größer als Berlin, liegt versteckt vor Afrikas Westküste. Am Ende musste er lernen, loszulassen. Er verwarf, löschte – und begann von Neuem. Atmen. Fühlen. Es leichter nehmen. Ohne es zu wissen, war er aber genau damit dem Geheimnis dieses Landes und seiner Menschen schon viel nähergekommen; Hardy Müller hatte nicht zu viel versprochen.

Das Telefonat mit ihm, der dem Archipel mit seiner Kamera nachgespürt hat, wirkt noch nach. Jene Melange aus Aufbruch und historischem Erbe, welche »den Menschen und ihren Gesichtern innewohnt«, so beschrieb es der in Frankenthal ansässige Fotograf. Seit mehr als 20 Jahren reist Hardy Müller als Fotoreporter im Auftrag renommierter Magazine wie National Geographic, GEO oder dem ZEIT Magazin um die Welt. Auf dem Schreibtisch steht ein Strauß faustdicker Pfingstrosen. Extra gekauft als Inspiration. Schließlich geht es um São Tomé und Príncipe, ein Naturparadies, dessen Flora mit 700 bis 800 Pflanzenarten so mannigfaltig und divers wie kaum anderswo auf der Welt ist. Stichwortzettel liegen wild verstreut herum: zum Flammenbaum, dem Riesen-Sonnenvogel oder den Tatô, den Oliv-Bastardschildkröten. Allein fünf der sieben weltweit vorhandenen Arten von Meeresschildkröten kommen zur Eiablage an die einsamen Strände im Süden und Norden São Tomés, der deutlich größeren der beiden Hauptinseln. Seit ein paar Jahren werden in Zusammenarbeit mit örtlichen NGOs sanfte Tourismusprogramme dazu entwickelt. Wer möchte, der kann seinen Urlaub sogar als Eco-Volunteer in den Dienste des Naturschutzes stellen. Überhaupt, die Fauna! Wenige Säuger, dafür aber eine ganze Reihe seltener Amphibien und Reptilien. Fast 180 heimische Vogelarten zählt das zweitkleinste Land Afrikas nach den Seychellen. Rund 30 davon sind endemisch, kommen also nur hier vor. Normal wären nach Expert:innenmeinung bei Inseln dieser Größenordnung maximal ein bis zwei Arten. 

Hardy Müller bezeichnet seine Reise zu den überbordenden Landschaften inmitten des Atlantiks, entlang der Gassen, Gesänge und Kolonialgemäuer, tief hinein in die Seele dieser jungen Republik als eine seiner schönsten und beeindruckendsten. Vieles auf São Tomé und Príncipe erinnere ein wenig an die Karibik vor 50 Jahren, viel mehr noch an die Jahrhunderte davor, sagt er. Als die portugiesischen Landlords der Überseekolonie und der Adel in Lissabon dank Sklav:innenhand reich wurden – erst durch den Anbau von Zuckerrohr auf eigens dafür gerodeten Flächen, später dann mit Kakao. Noch heute produziert der Inselstaat auf einigen Roças, den großen Plantagenhöfen, einen so edlen Kakao, dass daraus die weltbesten Schokoladen entstehen. In den höheren Gebirgslagen gedeiht zudem vollmundig-feiner Arabica-Kaffee. Wer den reichen Garten von São Tomé und Príncipe erleben möchte, sollte den Mercado Municipal besuchen, den größten Markt der Insel. Bunte, am Boden ausgebreitete Tücher, auf denen Maniok, Bananen, Yamswurzeln oder Jackfrüchte liegen, frisch gefangener Tintenfisch, Thun, Barracuda und Wahoo wandert über einfache Holztheken und es duftet aus kleinen Garküchen nach Micócó, einem aromatischen Kraut und Aphrodisiakum. Das riesige, im Modernismus erbaute Cinema Marcelo de Veiga, der Präsidentenpalast aus dem 18. Jahrhundert, das alte Forte de São Sebastião, in dem heute das Nationalmuseum beheimatet ist: Der Archipel lädt ein zu einer Zeitreise in Kulturen und Mentalitäten. Stets ist sie eng verknüpft mit dem jahrhundertelangen Sklav:innenhandel der früheren Kolonialmacht Portugal und der schließlich erlangten Unabhängigkeit des Landes im Juni 1975. Dass danach zunächst der Marxismus Einzug hielt, bevor sich eine freie Marktwirtschaft entwickeln konnte, dokumentieren noch Relikte auf einigen der stillgelegten Roças. So manches rostige Überbleibsel stammt aus der ehemaligen Sowjetunion oder der früheren DDR. In den letzten Jahren wurden viele der ehemals verhassten imposanten Herrenhäuser aufwendig restauriert und in Hotels, Eco-Lodges und Luxus-Ressorts umgewandelt. Charmant, authentisch und keineswegs überteuert sind das Mucumbli nahe der Stadt Neves oder die Roça São João dos Angolares bei Santa Cruz mit ihrer ausgezeichneten Küche. Keine Bettenburgen, kein Neonlichtgeflacker oder Bassgewummer aneinandergereihter Ramschläden, Bars und Beachclubs: Wer auf den Archipel kommt, entscheidet sich dafür ganz bewusst. Gerade mal rund 45 000 Urlaubsgäste zählte das Land im Jahr 2019. Aus dem Traum vom großen Reichtum – Anfang der 2000er vermuteten Geolog:innen in der Tiefsee vor den Inseln mehrere Milliarden Barrel Erdöl – wurde bislang nichts. Zu minderwertig das Öl, zu schwierig seine Erschließung. Ein »zweites Kuwait« blieb aus. Auch wenn der kleine Inselstaat deshalb weiterhin von internationalen Finanzspritzen und Entschuldungsmaßnahmen abhängig ist, hat er andererseits einen möglichen Ausverkauf und Raubbau an der Natur so (vorerst) vermieden. So setzt man jetzt verstärkt auf sanften Öko-Tourismus: BIP ankurbeln, ja – aber auch das bewahren und schützen, was das Tropenparadies ausmacht. Neu gebaut werden deshalb vorrangig sensible, hochwertige Anlagen wie das Sundy Príncipe mit direktem Zugang zur Praia Banana, dem wohl schönsten Strand der Inseln. Auf einer nahen Roça werden eigens für das Ressort Seifen, Stoffe und Baumaterialien erzeugt und es wird Obst und Gemüse angebaut. Im derzeit einzigen Fünfsternehotel der Inseln residiert man als Gast dann in acht modernen Bambusvillen mit Zeltdächern, die sich perfekt in die grüne Landschaft einfügen. Volksnaher kommt man in einfachen Pensionen für bereits 50 bis 70 Euro unter. Oft sind es kleine Familienbetriebe – und so kann man einander bei Calulu de peixe (einem deftigen landestypischen Fischeintopf mit Tomaten, Okra, Süßkartoffeln, Spinat, Zucchini und Palmöl) und kühlem Criola (einem heimischen Bier) abends auf der Veranda sehr einfach und lecker kennenlernen. Portugiesisch, die Amtssprache des Landes, geht immer. Spanisch wird verstanden, auch etwas Englisch. Oder man nutzt eben Hände und Füße.

São Tomé und Príncipe ist all das, ist Wellenreiten am Praia Santana, Whalewatching vor dessen Südküste, ist Tanz zu Trommeln zwischen einfachen Wellblechhüten, die steinerne Feuerstelle am Strand mit duftendem Fisch. Seine täglichen Wunder sind die Nebelbänke zwischen längst erloschenen Vulkanen, die über den Bergwald hinwegziehen bis hoch auf die über 2 000 Meter des Pico São Tomé, oder die Sonnenaufgänge über türkisblauen und limettengelben Kirchen im Kolonialstil. Es sind die bunten Korallenriffe und schwarzen Lavafelsen im Schatten der Palmen, umspielt von weißem Sand, seine Menschen, die überwiegend jung sind, entspannt. Die sich gerne versammeln auf ihren kleinen Plätzen, wo lachende Kinder barfüßig in weißen Kreidefeldern eine Art Völkerball spielen. Begrüßt wird man hier oft mit einem Wort: »Morabeza«. Es lässt sich nicht übersetzen. Doch steht es für Lebensfreude, Gastlichkeit, Warmherzigkeit, Toleranz, Freundschaft und Teilen. Auf den Inseln gehört es zum Leben genauso wie »Sodade«: eine Art der Melancholie, des Weltschmerzes. Einst brachten portugiesische Siedler:innen diese Begriffe mit. Über die Jahrhunderte wurden sie weitergegeben, verändert, transformiert in die hiesigen Kreolsprachen der afrikanischen Sklav:innen, der »Forros« (portug. »befreiter Sklave«), Angolares und ihrer Nachfahr:innen. Sie wurden Teil des heutigen Lebens – und waren ein Teil im Leben der Ahnen, die, so heißt es auf den Inseln, in den hohen Baumkronen der mächtigen Ocás weiterleben.
São Tomé und Príncipe ist ein Suchen und Finden des Neuanfangs, einer Balance zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen dem Licht und dem Dunkel. Vielleicht liegt ja dieser Archipel nicht von ungefähr so nah am »Gleichmacher« (lat. aequãtor) des Tags und der Nacht. »Leve-Leve« sagen die Menschen auf der Insel hier gerne. Sinngemäß ein: »Nimm es locker.« Im eigentlichen Wortsinn aber bedeutet es »leichtes Licht«.

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